Flucht in die Unwissenheit

Was wussten die Menschen vom Holocaust?
"Davon haben wir nichts gewusst!" - dieser Satz steht wie kein anderer für die kollektive Abwehrhaltung vieler Deutscher und Österreicher nach dem Zweiten Weltkrieg. Obwohl die Jahre zwischen 1933 und 1945 der besterforschte Zeitraum der deutschen Geschichte sind, wurde dieser Aspekt bisher stark vernachlässigt.

Experten fordern längst eine Erforschung der Mitwisserschaft. Raul Hilberg, ein Begründer der Holocaust-Forschung, meldete sich etwa am Wochenende im "Standard" zu Wort: Erst 20 Prozent wisse man heute über den Holocaust. Für die Frage nach dem Wissen der Zeitgenossen müsste man an viel mehr Privatarchive herankommen.

Wie viel wusste man wirklich?
Mit seiner Studie "'Davon haben wir nichts gewusst!' Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945" versucht nun der Historiker Peter Longerich diese ungelöste Frage der Holocaust-Forschung zu beantworten.

Longerichs Kernaussage - dass der Durchschnittsbürger sehr viel wusste - kann nicht überraschen. Immerhin fand die Judenverfolgung zu großen Teilen vor den Augen aller statt. Vielmehr stellt sich die Frage, was konkret man "nicht gewusst" hat.

Oder anders formuliert: Wie gut war die Allgemeinheit über die letzte Phase der Judenverfolgung, die Vernichtungslager, informiert?

Vernichtungslager waren kein Geheimnis
Longerich geht davon aus, dass Informationen über Vernichtungslager weiter verbreitet waren, als immer noch oft angenommen wird. "Nicht die Mehrheit, aber doch ein erheblicher Anteil der Bevölkerung und nicht etwa nur eine kleine, auf eine bestimmte Region, Berufssparte oder auf ein soziales Milieu beschränkte Minderheit" habe vom Holocaust gewusst.

Kollektive Wahrnehmungsverweigerung
Dieses Wissen sei allerdings immer mehr verdrängt worden, je mehr sich abzeichnete, dass der Krieg verloren war, und die Menschen Rache und Bestrafung fürchteten.

Die daraus resultierende, betont zur Schau getragene Passivität und Gleichgültigkeit gegenüber der "Judenfrage" dürfe nicht mit tatsächlicher Indifferenz verwechselt werden - darauf legt Longerich Wert. Er sieht darin vielmehr "den Versuch, sich jeder Verantwortung durch ostentative Ahnungslosigkeit zu entziehen".

Nicht-wissen-Wollen
Der Autor gelangt zu dem Fazit, dass, wer vom Holocaust wissen wollte, auch wissen konnte. Dazu sei allerdings vor allem der Wille nötig gewesen, das Unfassbare zu glauben und die einzelnen Teile, die Gerüchte und Ahnungen, zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen.

Erstmalig ausgewertete Quellen
Bemerkenswert ist die Fülle an unterschiedlichen Quellen, die der Historiker zu diesem Themenkomplex gesammelt hat. Protokolle der täglichen Propagandakonferenzen Goebbels wurden im Rahmen der Studie ebenso erstmals ausgewertet wie Stimmungs- und Lageberichte des Regimes zur "Judenfrage".

Neben einer breiten Analyse von Zeitungen zieht Longerich außerdem zahlreiche Berichte von verschiedenen Auslands- und Untergrundorganisationen heran. Ergänzt durch Presseanweisungen des Propagandaministeriums gelingt es dem Historiker, die nationalsozialistischen Propagandarichtlinien weitgehend zu rekonstruieren.

Die Taktik des Propagandaministeriums
Longerich analysiert das Auf und Ab der antisemitischen Propagandawellen und setzt es in einen chronologischen Zusammenhang mit der Politik des Regimes und den Reaktionen der Bevölkerung.

An Hand dieser Zeitleiste kommt der Historiker zu dem Ergebnis, dass Goebbels die Medien anwies, die Berichterstattung zu bremsen, sobald die Beunruhigung in der Bevölkerung zu groß wurde. So sei "eine diffuse Atmosphäre entstanden, in der sich der einzelne Bürger oft aus Selbstschutz weigerte, die Informationen zusammenzufügen".

Kein "antisemitischer Konsens"
Longerich kommt allerdings auch zu dem Schluss, dass es in der Anfangszeit des "Dritten Reiches" keinen "breiten radikal-antisemitischen Konsens in der deutschen Bevölkerung" gab.

Damit widerspricht er Daniel Goldhagen, der in seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" (1996) die These von einem tief in der deutschen Kultur verwurzelten Antisemitismus aufgestellt hatte.

"Abscheu" und "Empörung"
Longerich hingegen ist der Ansicht, dass große Teile der Bevölkerung den Antisemitismus ablehnten. In den Untergrund gegangene Sozialdemokraten berichteten etwa von "Abscheu", "Empörung" und "Unruhe" in der Bevölkerung.

Auch aus internen Berichten geht hervor, dass das Regime immer wieder beklagte, "das Judenproblem" werde "von der einheimischen Bevölkerung nicht erfasst".

Mithaftung der Bevölkerung
Der Autor stellt die These auf, dass das Regime die Bevölkerung "zu Zeugen und Mitwissern des Massenmordes" machen wollte. Gezielte Andeutungen sollten die Menschen das gesamte Ausmaß des Grauens erahnen lassen.

Ausschlaggebend dafür sei gewesen, dass "der Unwille der Bevölkerung, ihr Verhalten zur 'Judenfrage' entsprechend den vom Regime verordneten Normen auszurichten, wuchs, je radikaler die Verfolgung wurde".

Die Menschen sollten durch diese Taktik davon überzeugt werden, dass das Schicksal jedes Einzelnen mit dem Schicksal des Regimes untrennbar verbunden sei, da, wie Goebbels im März 1943 in sein Tagebuch schrieb, man "die Brücken hinter sich abgebrochen" habe.

Wertvoller Beitrag
Longerich hat sich eines heiklen Themas angenommen. Die Schlüsse, die er aus seiner Recherche zieht, werden dafür sorgen, dass die Diskussion um die Mitwisserschaft der Bevölkerung nicht verstummt.

Das von ihm akribisch gesammelte Datenmaterial und die methodisch differenzierte Auswertung liefern zweifellos einen wertvollen und, wie immer wieder betont wird, dringend nötigen Beitrag zur Holocaust-Forschung.

Romana Beer, ORF.at

Buchhinweis
Peter Longerich, "Davon haben wir nichts gewusst!" Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945. Siedler Verlag, 448 Seiten, 24,95 Euro

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