Seinem und dem Leben seiner jüdischen Frau Henny widmet Vikram Seth, der stets in einem Atemzug mit seinem Landsmann Salman Rushdie genannt wird, eine berührende, aber auch humorvolle Doppelbiografie, die den Irrsinn des 20. Jahrhunderts einfängt wie sonst nur wenige Bücher.
Aberwitzige Lebensgeschichten
In Deutschland und Österreich wurde in ersten Kritiken der neue, unverbrauchte Blick auf Nazi-Deutschland und den zweiten Weltkrieg gelobt. Die "Times" schrieb schlicht: "Dieses Buch wird Sie ein Leben lang begleiten."
Was "Zwei Leben" (S. Fischer) so unvergesslich macht, ist neben dem erzählerischen Talent Vikram Seths die Einzigartigkeit der Lebensgeschichten von Henny und Shanti.
Die Unerwünschten
Kurz zusammengefasst: Der junge Shanti kam aus Indien, um in Berlin Zahnmedizin zu studieren. Er war Untermieter bei der Familie Hennys. Als nach und nach die Rassen- und Ausländergesetze der Nazis erlassen wurden, zog das nicht nur Folgen für die jüdische Familie von Henny, sondern auch für Shanti nach sich.
Berufsverbot für Arier
Bald war klar, dass der strebsame Student in Deutschland seinen Beruf nicht ausüben würde dürfen. Die Ironie der Geschichte: Shanti war einer der wenigen "echten" Arier im "Dritten Reich", er stammte aus der entsprechenden Region in Indien.
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©Bild: S. Fischer |
Deshalb emigrierte er nach England. In seinem britischen Pass wird er explizit als "Arier" bezeichnet.
Henny, die beiden waren zu diesem Zeitpunkt noch kein Paar, konnte ihm im letzten Moment folgen.
Zahnarzt ohne zweite Hand
Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs meldete sich Shanti als Zahnarzt zu den britischen Truppen. In der Schlacht um Monte Cassino an der Italien-Front büßte er durch eine Granate die rechte Hand ein - der Krieg war für ihn vorbei. Er konnte trotz seines Handicaps als Zahnarzt mit eigener Praxis in England Fuß fassen.
Familie von Nazis ausgelöscht
Als der Krieg zu Ende war, erfuhr Henny vom Tod ihrer Familie in den Konzentrationslagern der Nazis. Der Schmerz über den Verlust wird umso stärker, als sie erfahren muss, wie viele ihrer Freunde die Familie im entscheidenden Moment im Stich gelassen hatten.
Der Leser als Biograf
Vikram Seth gibt einen guten Teil der biografischen Arbeit an den Leser ab. In den Text sind zahlreiche Originaldokumente eingewoben: Briefe, ein Pass, Nazi-Dokumente, Auszüge aus Vikram Seths Interviews mit seinem Onkel und, vor allem, Fotos aus dem Familienalbum.
Schon bald fühlt sich der Leser als Teil des Kreises rund um Shanti, erlebt die Historie aus erster Hand mit, durchlebt die vielen Freundschaften und Zerwürfnisse und beobachtet aus nächster Nähe die nur allmählich wachsende Liebe zwischen Shanti und Henny.
Der erste Brief mit linker Hand
Ungleich mehr Betroffenheit als durch jede Beschreibung stellt sich ein, wenn plötzlich ein abgebildeter Brief in krakeliger Großbuchstabenschrift auftaucht, zerknittert, oft gefaltet und zerlesen. Schon der erste Satz erklärt das eigenartige Schriftbild:
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©Bild: S. Fischer |
„LIEBES HENNERLE, ETWAS GANZ SCHRECKLICHES IST MIR PASSIERT, MEIN RECHTER UNTERARM IST VON EINER GRANATE KOMPLETT ABGETRENNT WORDEN."
Das Mosaik des Verrats
Atemberaubend spannend ist es auch, die Briefe Hennys mit ihren Freunden in Deutschland nach dem Krieg zu lesen. Niemand wollte sich als Nazi outen, alle wollten der Mutter und der Schwester geholfen haben. Dann begannen die gegenseitigen Vorwürfe der Freunde.
Es dauerte Jahre, bis Henny genug Informationen gesammelt hatte, um ein Mosaik aus Verrat und Treue zusammensetzen zu können. Von ihrem früheren, an Freundschaften reichen Leben blieb nicht viel mehr als Erinnerungen und Enttäuschungen.
Der Purzelbaum des Maultiers
Lebendig wird "Zwei Leben" neben den Dokumenten durch die Interviews mit Shanti und dessen besondere Art der Wahrnehmung. Er gibt die Kriegswirren mit den Augen eines Zahnarztes wieder.
Oft wirkt der kleine Inder wie ein Zaungast, wenn er Beobachtungen von einem "Purzelbaum schlagenden Maultier" (wegen eines Granattreffers) oder vom gespenstischen Ausheben von Leichengruben vor einer Schlacht erzählt.
Kein Heldenepos
Vikram Seth schreibt tief empathisch, drängt den Lesern die Protagonisten aber nicht als Helden auf - im Gegenteil. Shanti bleibt, nicht zuletzt durch den überraschenden Schluss des Buches, nicht als eindimensional sympathische Figur in Erinnerung.
Der Autor versucht auch nicht, die Beziehung zwischen seinem Onkel und seiner Tante als große, ekstatische Liebe darzustellen. Er lässt den Zwischentönen Raum.
Der Einzug der Normalität
Im letzten Drittel der Doppelbiografie kehrt Ruhe in das Leben Shantis und Hennys ein - und auch in das Buch. Erst im Finale kehrt "Zwei Leben" wieder zu hohem Tempo zurück.
Vikram Seths bisher meistbeachtetes Buch war der fast 2.000 Seiten umfassende Roman "Eine gute Partie" über Indien während der 50er Jahre. Es wird im August vom Fischer Verlag als Taschenbuch neu aufgelegt.
Mit "Zwei Leben" kann Seth an diesen Erfolg anschließen, es ist ein Dokument von historischem Wert und wegen seiner zahllosen Anekdoten (etwa ein Saufgelage Shantis in den Kruppstahlwerken) eine kurzweilige Lektüre.
Simon Hadler, ORF.at
Buchhinweis
Vikram Seth, Zwei Leben. S. Fischer, 640 Seiten, 23,60 Euro.
Links
- Zwei Leben (S. Fischer)
- Arier (Wikipedia)