Wie viel Ibsen darf es sein? | |
Die Gegenwart hat das Werk von Ibsen aktualisiert - doch wozu zeigt man die Stücke des Norwegers noch?
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Nora im "Tomb Raider"-Outfit, Hedda Gabler, die im Designer-Loft einen Laptop zertrümmert - noch nie konnten sich klassische Theaterautoren davor schützen, dass ihre Stücke in ein höchst zeitgenössisches Kleid gepresst werden. Shakespeare und Schiller könnten davon ein Lied singen, hätten sie noch Töne. Ein Autor, der wie kein anderer in die Gegenwart zu passen scheint, ist der am 23. Mai 1906 verstorbene Norweger Henrik Ibsen. Als Naturalisten und schonungslosen Aufdecker der Wirklichkeit, als Vorkämpfer für die Rechte der Frau und die eigene Individualität hat man Ibsen immer wieder bezeichnet. Egon Friedell nannte ihn "den größten Historiendichter des neueren Europa". Da sich nun das neuere Europa ständig wandelt und erneuert, darf Ibsen also Zeitgenosse auch der Gegenwart sein. Ibsen in neuer Übersetzung Soeben legte der Rowohlt Verlag anlässlich des Ibsen-Jahres eine Neuübersetzung von vier Ibsen-Stücken in einem kompakten Taschenbuchband vor. Aus dem Nachwort des Übersetzers lässt sich ablesen: Ibsens Texte will man der Zeit anpassen und eine altertümlich-elegische Sprache ablegen. Ein verschlankter Ibsen in deutscher Übersetzung liegt nun wieder zum Lesen vor. Und blickt man auf die gefeierten Ibsen-Produktionen der letzten Jahre, so fällt immer der Name eines Regisseurs: Thomas Ostermeier. Ostermeier nahm sich den neu übersetzten Ibsen vor, etwa für die Produktionen von "Nora", "Hedda Gabler" (beide an der Schaubühne Berlin) und den "Baumeister Solness", den er am Wiener Akademietheater mit Gerd Voss in der Hauptrolle herausbrachte.
Mit Ibsen zur "Kultinszenierung" Ostermeiers "Nora" mit der vorzüglichen Anne Tismer wurde zu der Wiener-Festwochen-Sensation vor zwei Jahren (seitdem trägt die Inszenierung der "Nora" im Prada- und Lara-Croft-Outfit das Attribut "Kultinszenierung"). "Hedda Gabler", mit der vor allem aus Kino und TV bekannten deutschen Jungschauspielerin Katharina Schüttler, ist nach wie vor ein von der Kritik viel bejubeltes Stück. Ostermeier aktualisiert Ibsen, transferiert ihn in die Yuppie-Gesellschaft und führt dem Publikum eines vor: Ibsens Themen, darunter die Aufdeckung gesellschaftlicher Verlogenheit, haben bis heute Geltung. Ein "revolutionärer Moralist" Ostermeier, so befand soeben die "Neue Zürcher Zeitung" zum Ibsen-Jubiläum, sehe in dem norwegischen Dramatiker einen "revolutionären Moralisten"; die Stücke Ibsens seien eine Warnung an die Gesellschaft seiner Zeit gewesen - deshalb dürfe man sie aktualisieren und auf die Gesellschaft der Gegenwart mit derselben Intention beziehen. Ibsen als Kassandra für gesellschaftliche Entwicklungen der Gegenwart? Dazu wollten Regisseur Ostermeier und seine Dramaturginnen Beate Heine und Maja Zade nicht nur den Ibsenschen Text um ein zeitgenössisches Vokabular anreichern wie "geil", "krass" und "cool". Auch bei der Umsetzung auf der Bühne wollte man nicht mehr auf die klassische Inszenierungspraxis setzen: Die Ästhetik, mit der man Ibsen mittlerweile auf die Bühne bringt, scheint vor allem dem Film geschuldet - Soundtrack inbegriffen. Wie eine Zwiebel
"Ibsens Theater beruht auf der Überzeugung, man müsse nur weit zurück in die Vergangenheit und tief hinab in die Abgründe einer Person reisen, und dann werde man deren Seele schon freilegen und retten können", schrieb Peter Kümmel in der "Zeit": Dahinter stehe das Bild von der Zwiebel (siehe Peer Gynt), der unser Inneres gleiche: Die Schalen (Verstellung, Lüge, Verdrängung) müssten abgelöst werden, bis man eventuell zu einem wertvollen Innersten vorstoße. "Das Ibsen-Schema befeuert heute unzählige TV-Serien. (...) Wir sehen Widerlinge, die sich häuten. Sie müssen durch den Schmerz, damit sie gerettet werden." Prozess der Entblößung Das Theater, das sich wie bei Ostermeier dem Film annähert, interessiert sich nicht mehr für den Kern der Charaktere, sondern den Prozess der Entblößung. Theater als Kino, das ist ein Panoramablick von außen - kritisierte die "Zeit": Auf der Bühne könnte schon "atmendes Kino" stattfinden - "leider gibt das Theater ein anderes Bild ab. Unter seinen vielen Leinwänden erinnert es an einen Erstickenden in einem Sauerstoffzelt", so Peter Kümmel. Ibsen - zu wenig Zeitgeist? Auch der frühere Dramaturg Klaus Völker sieht diese Transformationsprozesse zum Zeitgenössischen bei Autoren wie Ibsen nur zum Teil gelungen. In der "NZZ" erinnerte Völker an eine Rede Heinrich Manns anlässlich des 100. Geburtstages von Ibsen. Auch damals sah man Ibsen dem Zeitgeist nicht gewachsen. Mann hielt den Ibsen-Kritikern 1928, also inmitten der Wirren der Weimarer Republik, entgegen: "Es könnte eine Schwäche dieses (unseres) Zeitalters sein, und 1880 war vielleicht in manchem stärker. Es hatte Ibsen." "Die Gesellschaft oder ich" "Ich muss herausfinden, wer Recht hat: die Gesellschaft oder ich", sagt Nora in dem gleichnamigen, 1879 uraufgeführten Stück. Nora, die erkennen muss, dass sie von den Männern nur manipuliert und als machtlose Puppe ohne eigenen Willen behandelt wird, wählt den Weg in die Freiheit. Sie verlässt ihren Mann, lässt die Familienbande hinter sich. Verbluten - oder zurückkehren? Bei Ostermeier muss Nora die Pistole in die Hand nehmen - wo kein Blut, da keine Katharsis, und so strömt bei Ostermeiers Ibsen am Ende der rote Saft und dröhnt die ohrenbetäubende (Film-)Musik. Möglicherweise wäre Ibsen mit dieser Umdeutung seines Werkes eher zurechtgekommen als mit dem Umgang mit "Nora" zu seinen Lebzeiten. Eine deutsche Erstaufführung der "Nora" war mit dem ursprünglichen Ende nicht zu machen. Ibsen musste seine "deutsche" Nora in den Schoß der Familie zurückkehren lassen. Gerald Heidegger, ORF.at Buchhinweis Henrik Ibsen, Theaterstücke. Nora oder Ein Puppenhaus, Hedda Gabler, Baumeister Solness, John Gabriel Borkmann. Neu übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, 480 Seiten, 12,90 Euro. Links:
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