Die Stimme der Vernunft ist leise

Die Berggasse 19 wurde zum Symbol für die Geschichte der Psychoanalyse in Wien.

  Wien-Touristen fragen nach der Berggasse 19. Einheimische Wiener fragen zurück: "Sie meinen die Freudgasse 19?" Dieses Frage-Antwort-Spiel ist keine Wiener Realsatire, sondern eine durchaus mögliche Fiktion.

Tatsache ist, dass Wiener Stadträte eine solche Umbenennung der Wiener Berg- in Freudgasse real geplant hatten. Das war jedoch nicht, wie man annehmen könnte, als symbolische, posthume Ehrung Sigmund Freuds nach 1945 gedacht, sondern bereits Anfang der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts geplant - damals, als Wien noch Freuds Zuhause war.

Keine Chance für die Freudgasse

Die Zeit aber war gegen Freud. Das Vorhaben wurde bis heute schubladisiert: Austrofaschismus, deutscher Nationalsozialismus, der Anschluss des Landes an das so genannte Dritte Reich sowie - nach dessen Ende 1945 - die schwierige, erst nach Jahrzehnten begonnene Aufarbeitung dieser auch für Österreich mit Schuld beladenen Zeit - all das ließ keine Freudgasse zu.

Wien begann erst spät, seinen berühmten ehemaligen Bürger zu schätzen. 1971 wurde in seiner früheren Wohnung unweit der Wiener Universität dank der Initiative der damaligen Freud-Gesellschaft und der Wiener psychoanalytischen Vereinigung das Freud-Museum eröffnet. Inzwischen pilgern jährlich Zehntausende Österreich-Besucher zu Sigmund Freuds ehemaligem Domizil.

"Triumph und Trauer"

"Das Triumphgefühl der Befreiung vermengt sich zu stark mit der Trauer, denn man hat das Gefängnis, aus dem man entlassen wurde, zu stark geliebt ....", notiert Sigmund Freud am 6. Juni 1938, zwei Tage nach seiner Flucht aus Österreich. Mehr als 50 Jahre hatte Freud in Wien gelebt.

Hier hatte er seine revolutionären Schriften zu Papier gebracht, deren Erkenntnisse nach wie vor, wenn auch inzwischen vielfach revidiert und weiterentwickelt, unser Denken, unsere Gesellschaft prägen.

Ohne Freud keine Küchenpsychologie

Es war Freud, der auch die innere Tiefe eines jeden von uns und damit jeden einzelnen Menschen selbst als komplexes Individuum nachhaltig gesellschaftsfähig machte.

Ohne Freud, besser gesagt, ohne den durch ihn initiierten Durchbruch der Achtung und Beachtung der Seele, gäbe es heute weder die inzwischen vertraute subtile psychologische Kriegsführung noch all die perfekt ausgetüftelte aktuellen Managementtheorien und schon gar nicht jedwede landläufige Küchenpsychologie.

Freud war es, der in der neuen Moderne des 20. Jahrhunderts auch die Psyche des Einzelnen als wesentlichen Faktor der Gesellschaft wahrnehmbar machte.

Berggasse 19 als Symbol

In Wien hatte sich Freud selbst gefunden. Hier begann und festigte sich sein Nimbus als "Vater der Psychoanalyse". Sein Zuhause und seine Praxis in der Berggasse 19 im neunten Wiener Bezirk war schon damals international ein Synonym für eine neue, zeitgemäße Annäherung und Ergründung der modernen Gesellschaft.

Von Wien nach London

Anna, seine jüngste Tochter, hatte wissenschaftlich das Rad weitergedreht durch ihre Spezialisierung auf Kinder und Jugendliche, auf die heranwachsende nachfolgende Generation. Auch ihre Praxis war in der Berggasse 19 beheimatet.

Am 6. Juni 1938 konnten Sigmund Freud, seine Frau Martha und Anna Freud dank der Hilfe nicht-österreichischer Freunde aus Wien nach London fliehen. Freud war damals 82 Jahre alt. Seinen Schwestern war die Flucht verweigert worden. Sie wurden in den Gaskammern Theresienstadt ermordet.

Das einstige Wiener Zuhause in der Berggase 19 selbst war inzwischen als "Judensammellager" ein Durchgangsheim für österreichische Juden auf ihrem Weg in Hitlers Vernichtungslager geworden. Erstmals wurde dieser Sachverhalt in der 3sat-Dokumentation "Die verschwundenen Nachbarn von Sigmund Freud" dargestellt.

Wartezimmer mit Originaleinrichtung

Anlässlich der Eröffnung des Freud-Museums in der Berggasse 19 hatte Anna Freud die 1938 mit nach London ausgewanderte originale Einrichtung des ehemaligen Freud'schen Wartezimmers wieder zur Verfügung gestellt. Die Wahl gerade dieser "Freud-Reliquie" dürfte kein Zufall gewesen sein.

Es war auch ein symbolischer Akt: Seit dem 12. März 1938 war die ganze Wohnung der Familie Freud ein einziges Wartezimmer von Menschen, die aus Österreich fliehen mussten.

Rubina Möhring, 3sat

 
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