Freud - und der Rest der Welt

Die Psychoanalyse musste seit ihrer Gründung für vieles herhalten.

  Einsteins Relativitätstheorie und Freuds Psychoanalyse gelten als jene Denkmodelle, die unseren Blick auf die Welt im 20. Jahrhundert am radikalsten verändert haben. Sie widmeten sich den dunklen Geheimnissen des Weltalls und der kleinsten Teilchen, des Seelenlebens der Gesellschaft und des Ich.

Während die Verdienste Einsteins unbestritten sind, war eine klare Sicht auf die Psychoanalyse lange durch Polemiken von außen und Verwerfungen innerhalb der Bewegung verstellt.

Freud und der Zeitgeist

Erstmals ist nun Eli Zaretsky mit seinem rechtzeitig zum Jubiläum erschienenen, umfangreichen und akribisch recherchierten Buch "Freuds Jahrhundert" (Zsolnay) eine international hoch gelobte Beschreibung der Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Psychoanalyse gelungen.

Die Hauptthese Zaretskys ist jene von der Psychoanalyse als emanzipatorische Philosophie der Moderne. Freud habe bereits bestehende Theorien des Unbewussten mit Themen verquickt, die seine Wiener Zeitgenossen umtrieben, etwa Feminismus, Bi- und Homosexualität.

Daraus, so der Autor, seien die Grundannahmen von frühkindlicher Prägung und Sexualität entstanden.

Ausbruch aus der Familienhölle

Die viktorianische Familie war demnach kein Ort zur Vermittlung allgemeiner Moralvorstellungen mehr, sondern die Keimzelle von Eros und (später) Thanatos, von Begierde und Aggression.

Der Vater: gefürchtet und verhasst; die Mutter: sexuell begehrt. Nur mit Hilfe der Psychoanalyse konnte man nach Freud die gordischen Knoten der Kindheit lösen - mehr dazu in iptv.ORF.at.

Die Neurosen der Psychoanalyse

Die psychoanalytische Bewegung entwickelte sich schon während ihrer ersten Jahrzehnte zu einem Spiegelbild dieses Familienmodells. Man musste den Übervater vom Thron stoßen, um sich entwickeln zu können. Einflussreiche Wegbegleiter fielen im Lauf der Zeit von der "reinen Lehre" Freuds ab.

Der sozialdemokratische Analytiker Alfred Adler etwa stellte die Sexualität als Antrieb des Menschen in Frage und rückte ihn als soziales Wesen, das seine angeborene Minderwertigkeit überwinden will, in den Vordergrund.

Adler war weitaus politischer als Freud und Anfang der 30er Jahre weltweit mindestens so bekannt wie der "Vater der Psychoanalyse".

Intrigen gegen Abtrünnige

Freud war stets verzweifelt darum bemüht, Abweichler wie Adler auf Linie zu bringen. Gelang es nicht, versuchten er und seine Getreuen in männerbündlerischer Manier gegen die nunmehrigen Gegner zu intrigieren.

Erster Weltkrieg als Bewährungsprobe

Während die Bewegung begonnen hatte, sich in sektiererischen Grabenkämpfen zu verlieren, erreichte sie nach und nach ihre gesellschaftliche Anerkennung. Als "Durchbruch" gilt der Einsatz der Psychoanalyse im Ersten Weltkrieg.

In den Feldlazaretten arbeiteten die analytisch gebildeten Ärzte erfolgreich mit Verwundeten deren Traumata durch. Sie erzielten dabei vielfach bessere Ergebnisse als ihre nur schulmedizinisch geprägten Kollegen.

Freud und das große Ganze

Freud widmete sich in der Folge neben der Analyse von Individuen zunehmend auch gesellschaftlichen Themen wie Religion, Kunst und Anthropologie.

Er gilt als Vorreiter der Cultural Studies. Seine diesbezüglichen Schriften liegen in Sammelbänden vor, am öftesten wird heute noch aus "Das Unbehagen in der Kultur" zitiert.

Das Hitler-Trauma der Psychoanalyse

Dennoch vermied es Freud stets, sich politisch zu positionieren. Erst in der Zwischenkriegszeit wurde das Politische so virulent, dass auch Freud nicht gänzlich umhinkam, sich zum Tagesgeschehen zu äußern.

Gemeinsam mit Einstein verfasste er eine eindringliche Warnung vor dem drohenden Weltkrieg. Sonst verhielt sich die Psychoanalyse ruhig - was ihr noch heute oft angekreidet wird.

Zahlreiche der zumeist jüdischen Analytiker verließen angesichts der Machtergreifung Hitlers Deutschland und Österreich. Die Bewegung splitterte sich weiter auf. Freud verließ Wien erst 1938 - im letzten Moment - und ging nach London, wo er ein Jahr später im Alter von 83 Jahren verstarb.

Das Glück im Eigenheim suchen

Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg konzentriert sich Zaretsky auf seine Heimat USA. Vor allem hier breitet der Autor seine Theorie der Befreiung des Individuums von jeglicher Moral des Überbaus aus.

Durch diese "Befreiung" konnte man sein Leben ganz auf sich und seine Umgebung einstellen. Das Paradies wurde nicht durch Anstrengungen zur Herstellungen kollektiven Glücks erreicht, es lag zu Hause, in den eigenen vier Wänden.

Die Rückkehr des Familienideals

Wegen der großen Bedeutung, die die Psychoanalyse der Kindheit beimisst, wurde der Erziehung von Kindern besonderes Augenmerk geschenkt.

So sei ein Paradoxon entstanden: Freuds Dekonstruktion der Familie führte auf Umwegen zurück zum neuen alten Ideal vom trauten Heim mit dazugehöriger Vollzeit-Hausfrau und -Mutter.

Freud musste für alles herhalten

Auch an der Verbreitung der Konsumkultur sei Freud beteiligt gewesen. Die Werbeindustrie habe sich seine Theorien zu Eigen gemacht und auf symbolische Anleihen aus dem (sexuell konnotierten) Unbewussten gesetzt, wie Zaretsky in seinem Buch nachweist.

Genauso sei die Psychoanalyse aber Stichwortgeber der 68er-Generation gewesen. Freud galt hier als Tabubrecher und Überwinder starrer Strukturen.

Zaretskys Verdienst

Zaretskys Abriss der Geschichte der Psychoanalyse ist gleichzeitig eine durch ihre spezielle Perspektive spannende Historie des 20. Jahrhunderts.

Es ist das Zusammenspiel beider Tangenten - einer psychoanalytischen Sicht der Geschichte und einer historischen Sicht der Psychoanalyse -, das dem Autor quer durch die Feuilletons in den USA und im deutschsprachigen Raum hoch angerechnet wird.

Starrer Blick auf die USA

Kritik wird jedoch am US-Fokus des Buches geübt, er stelle eine Verzerrung des tatsächlichen Bildes der Weiterentwicklung der Psychoanalyse dar. Die "Süddeutsche Zeitung" ("SZ") etwa moniert, dass die Franzosen (allen voran Lacan) zwar Erwähnung fänden, aber viel zu kurz kämen.

Die "Zeit" würde sich ebenfalls einen internationaleren Blick wünschen, sie führt als Beispiel die reiche Geschichte der Psychoanalyse Indiens ins Rennen (der sie in der Ausgabe der vergangenen Woche einen ausführlichen Artikel widmete).

Zu viel "Überbau"?

Ein weiterer Kritikpunkt ist der soziologische Blick des Autors. Die "New York Times" merkt sarkastisch an, dass sich Zaretsky Max Weber und Antonio Gramsci näher fühle als Josef Breuer und Melanie Klein. Besonders die soziologische Sprache nerve beim Lesen, findet auch die "SZ".

Darwin - Marx - Freud

Trotz dieser Mängel fällt das Urteil der meisten Rezensenten euphorisch aus (eine Ausnahme macht die "SZ"). Zaretsky weise nach, dass Freud eine kanonische Figur wie Darwin und Marx sei, dass seine Theorien in das Gedankengut der Gesellschaft als Allgemeingüter eingegangen seien.

Das "psychoanalytische Zeitalter"

Das "psychoanalytische Zeitalter" ist für Zaretsky in den 70er Jahren zu Ende gegangen. Bei Psychosen hätten Medikamente die Psychoanalyse als Behandlungsform abgelöst.

Nur in abgewandelten Therapieansätzen habe sie überlebt - und als Hintergrund für geisteswissenschaftliche Strömungen wie die Cultural Studies.

Freuds Erbe als Fluch

Auf die Spuren der Psychoanalyse in der Gegenwart geht Zaretsky nur kurz in einem Epilog ein. Über Freud im zeitgenössischen Alltag wäre ein eigenes Kapitel wünschenswert gewesen.

Denn hier erweist sich Freuds Erbe zunehmend als Fluch. Das Gefängnis einer allgemeinen Moral wurde durch die mit einer laienhaften Dauerintrospektion einhergehenden Zwänge eingetauscht.

Pseudoanalytische Nabelschau

Für mehr Menschen denn je gilt: Wer etwas vergisst, hat es "verdrängt", wer eine Grippe hat, befragt seine Seele nach der Ursache, und für ein vertracktes Leben sucht man die Gründe (möglichst ausschließlich) in der Kindheit.

Die Folge ist allzu oft eine stümperhafte Selbstanalyse ohne Therapie. Heilung verspricht höchstens die Lektüre von Ratgeberliteratur.

Dafür kann man Freud schwerlich verantwortlich machen, die Alltagsanalyse hat mit ihm nichts mehr zu tun. Schließlich denkt heute auch kaum jemand beim Spruch "Alles ist relativ" an Albert Einstein.

"Ödipus, Schmödipus, wen juckt's"

Am Ende kann sich jeder, das ist wohl auch der Subtext von Zaretskys "Freuds Jahrhundert", aus den psychoanalytischen Thesen holen, was er gerade braucht.

Ein in der "New York Times" wiedergegebener jüdischer Witz bringt es auf den Punkt: Zwei ältere Juden stehen beieinander, sagt der eine zum anderen: "Ödipus, Schmödipus, wen juckt's, solange der Bub seine Mutter liebt."

Simon Hadler, ORF.at

Buchhinweis

Eli Zaretsky, Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse. Zsolnay 2006, 620 Seiten, 41,10 Euro.

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