Wie rein ist der Geist?

Lange vor Freud erkannte man seelische Symptome bei körperlichen Leiden. Nicht immer wollte man systematisch hinsehen.

  Wo liegen die Wurzeln der Psychoanalyse von Sigmund Freud und wie weit reichen diese zurück? Diese Frage ist in der Forschung nicht unumstritten, wissenschaftshistorische Standardwerke zur "dynamischen Psychiatrie" wie Henri F. Ellenbergers "Entdeckung des Unbewussten" (das zuletzt der Diogenes-Verlag wieder aufgelegt hat) fokussieren in dieser Frage sehr stark auf die Geschichte von Hypnose und Suggestion.

Von Charcot zurück zu Mesmer

Vor Jean-Martin Charcot und seiner Schule der Salpetriere in Paris, wo sich Freud entscheidende Anregungen holte, wird etwa von Ellenberger der Name des 1734 am Bodensee geborenen Franz Anton Mesmer groß herausgestrichen.

Mesmers Vorstellung vom "animalischen Magnetismus", also die Annahme eines subtilen physikalischen Fluidums, das den Menschen ebenso erfüllt wie das ganze Universum, wurde zur Grundlage einer Heilmethode, die über das Hervorrufen von "Krisen" eine gleichmäßige Verteilung des Fluidums herzustellen versuchte.

Mesmer, der sich nicht als Mystiker, sondern Vertreter der Aufklärung sah, erklärte die Wirkung des Fluidums auf physikalische Art: Magnetismus und Elektrizität seien für die Zusammensetzung des Fluidums verantwortlich.


Mesmers Ansatz, über die Herbeiführung von Krisen eine Heilung der Krankheit einzuleiten, wurde zur Grundlage des im 19. Jahrhundert praktizierten Hypnotismus, etwa Josef Breuers "kathartisches Verfahren".

Als die Psychologie noch keine Disziplin war

Dass sich Mesmer vor allem physikalischer Erklärungsmuster rund um seine Analyse der Wirkung des Fluidums bedienen musste, hatte einen triftigen Grund: Psychologische Theorien gehörten im 18. Jahrhundert dem Bereich der Popularphilosophie, etwa der so genannten Erfahrungsseelenkunde, an.

Einmal mehr blühte diese Disziplin im Grenzbereich zwischen Literatur und empirischen Wissenschaften. Die cartesianische Trennung zwischen res cogitans und res extensa, also die Spaltung seelischer von körperlichen Vorgängen, wird ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend hinfällig.

Aufwertung der sinnlichen Wahrnehmung

Der britische Sensualismus schlägt sich etwa in der deutschen Aufklärung nicht nur im Bereich der Ästhetischen Theorie nieder, wo es zu einer Aufwertung der subjektiven Empfindung kommt: Alexander Gottlieb Baumgarten wertet in seiner 1750 erschienenen "Aesthetica" das sinnliche Erkenntnisvermögen (die Schulphilosophie lokalisierte dieses als "unteres" Erkenntnisvermögen) auf.

Nicht mehr das Schöne als objektive Eigenschaft von Dingen bildet den Mittelpunkt dieser ästhetischen Theorie, sondern das die Schönheit von Gegenständen empfindende und beurteilende Subjekt.

Literatur als Probe für die Empfindsamen

Gerade in Autobiografie und Roman testet eine Epoche, die man nicht von ungefähr als Empfindsamkeit bezeichnet, ein neues Feld ab: Wie beeinflussen einander leibliche und seelische Vorgänge? Vom commercium mentis et corporis, also der Verbindung bzw. Durchdringung seelischer und leiblicher Vorgänge, ist die Rede.

Fortan wird die Literatur bevölkert von Neurasthenikern und Psychosomatikern, Melancholiker erscheinen als Schlüsselgestalten.

Der psychologische Roman

Karl Philipp Moritz erkundet etwa im "Anton Reiser", der zugleich das Genre des psychologischen Romans begründet, die Auswirkungen körperlicher Vorgänge auf die Psyche.

Der naturwissenschaftlich geschulte Georg Christoph Lichtenberg bekennt in seinen privat geführten Aufzeichnungen, den so genannten Sudelbüchern, die Abhängigkeit des Geistes von einem hinfälligen Körper (indirekt lehnt er sich dabei an den Franzosen Michel de Montaigne an, der in seinen "Essais" schon im 16. Jahrhundert wenig von einer Trennung von Geist und Körper hielt und sich bei der Beschreibung seines Ichs vor allem bei seinen körperlichen Gebrechen aufhielt).

Das "Magazin für Erfahrungsseelenkunde"

1783 gründet Moritz das "Magazin für Erfahrungsseelenkunde". Dieses bis zum Jahr 1793 erschienene Kompendium ist die erste psychologische Zeitschrift im deutschsprachigen Raum und damit ein wichtiger Entwicklungsschritt im Bereich einer empirischen Psychologie.

Das Magazin, das sich als eine Sammlung von Lebensgeschichten, Therapiebeispielen und Beobachtungen präsentiert, steht in der popularphilosophischen Tradition des 18. Jahrhunderts: Es versteht sich als "Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte".

Grundlagen für ein neues Körperbild

Entscheidend für die Entwicklung einer empirischen Psychologie waren allerdings grundsätzliche Änderungen im Körperbild des Menschen. Spätestens seit dem Ende des 17. Jahrhunderts gehört das humoralpathologische Körpermodell - die von Galen aus der Antike übernommene Vorstellung, dass verschiedene Körpersäfte den Charakter prägen - der Vergangenheit an.


Andrea Vesal ("De Humani corporis fabrica", 1543) konnte durch seine anatomische Studien bereits Mitte des 16. Jahrhunderts zeigen, dass zahlreiche Grundannahmen aus der Säftelehre falsch sein müssen.

Von der Säftelehre zum physiologischen Körperbild

Entscheidend für die Herausbildung eines "modernen" Körperbildes sind aber Entwicklungen des 17. Jahrhundert. Der britische Arzt William Harvey entdeckt den Blutkreislauf (1628), zwei Jahre davor gelingt es dem Italiener Santorio Santorio erstmals, Fieber mit einem Thermometer zu messen.

Der Körper wird unter dem Gesichtspunkt innerer physikalischer Vorgänge neu "systematisiert". Die Nerven werden in Zukunft das Leitmedium für die "Kommunikation" im Körper.

Die Seele als Wächter des Körpers

Gegen eine zunehmende Mechanisierung des Körpers trat im deutschsprachigen Raum Ende des 17. Jahrhunderts die protestantische Strömung des Pietismus auf, also jene religiöse Bewegung, die auch bei Moritz zur indirekten Triebfeder für die Ergründung der inneren Vorgänge wurde.

Eines der Zentren des Pietismus war die deutsche Stadt Halle, an deren Universität der spätere Leibarzt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I., Georg Ernst Stahl, Medizin unterrichtete. Stahl wertete gegen die mechanistischen Vorstellungen von Medizin der Cartesianer die subjektive Erkenntnis auf.

Der Beginn der Psychosomatik

Zugleich stützte er sich aber auf die Erkenntnisse von Harvey und Co., was die Funktionsmechanismen des Körpers anlangte. Stahl erhob die Seele zum wesentlichen Motor hinter Krankheiten. Nicht umsonst gilt er heute als eine Art Begründer der psychosomatischen Medizin.

Der Körper wird nach der Ansicht Stahls von der Seele geleitet, der Blutkreislauf ist eine Art "Mittler" zwischen Seele und Körper. Für Stahl steuerte die Seele den Körper bis ins kleinste Detail - niemand kenne den Körper so gut wie die Seele. Stahl zog daraus für die Anamnese einen grundsätzlichen Schluss: Nicht das Studium der anatomisch-physiologischen Details führt zum Kern der Krankheit, sondern die "Erfahrungen" am Krankenbett.

Nach Stahl übt die Seele, wie es der Heidelberger Medizinhistoriker Axel W. Bauer formuliert hat, ein "Wächteramt" über den Körper aus: "Sobald sie ihr Wächteramt vernachlässige, verfalle der Körper in eine unvernünftige, pathologische Anatomie."

Körper wieder in Schranken gewiesen

Doch Ansätze wie jene von Stahl hatten es gerade im Verlauf der Aufklärung schwer.
Wie Kulturwissenschaftler im Gefolge des französischen Philosophen Michel Foucault mit Vorliebe zeigten, blühten auch im 18. Jahrhundert trotz (oder gerade wegen) veränderter Auffassungen vom Körper die unterschiedlichsten Disziplinierungsformen des Leiblichen.

Das Projekt aufklärerischer Vernunft wurde oft als eines der Zurückdrängung des Körpers definiert. In der Systematisierung der Erkenntnis sollte weder das Leibliche noch alle Formen verworrener Erkenntnis eine Rolle spielen.

Wohin mit den Träumen?

Die Welt des Traumes sah man, belegt durch Kants Schrift gegen den schwedischen Wissenschaftler und Mystiker Emanuel Swedenborg "Träume eines Geistessehers (...)" (1766), in den Bereich der Metaphysik verwiesen.

Die Träumerei musste von einer objektiven Form des Wissens unterschieden werden. Schon in seinen anthropologischen Schriften drängte Kant die Träume an den Rand. Träume gehören für Kant in den Bereich personaler Privatheit. Wären sie Teil objektiver Erkenntnis, dann "würde es nicht beim Erwachen viele Lücken (...) in unserer Erinnerung geben".

Distanz von der "objektiven" Erkenntnis

Kant registrierte in seiner "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" sehrwohl die unterschiedlichen Formen von "Gemütskrankheiten". Ihre Einteilung gelang aber nur in der Hinsicht, wie sie sich von einem Ideal von Erkenntnis unterschieden. So schreibt Kant zum "Wahnsinn (dementia)": "Wahnsinn ist diejenige Störung des Gemüts, das alles, was der Verrückte erzählt, zwar den formalen Gesetzen des Denkens zu der Möglichkeit einer Erfahrung gemäß ist, aber durch falsch dichtende Einbildungskraft selbst gemachte Vorstellungen für Wahrnehmungen gehalten werden."

"Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer",
heißt es in dem berühmten Capriccio des spanischen Malers Goya (1797/98). Die Aufklärung wird vieles, was nicht der Vernunft zuzuordnen ist, in den Bereich des "Dunklen" abschieben.

Der französische Enzyklopädist und Mathematiker Jean le Rond d'Alembert vermerkt im Rückblick auf die Leistungen seines Jahrhunderts: "Neue Dunkelheiten, die entstanden, waren die Furcht dieser allgemeinen Gärung der Geister."

Geschichte des Unbewussten

Erst mit Freud, schreiben die Kulturwissenschaftler Gernot und Hartmut Böhme, sei "ein Reflexionstyp ins europäische Denken gekommen, der einen Großteil dessen, was sich Philosophie nennt, naiv erscheinen lässt. Es ist seitdem keine Bewusstseinsphilosophie möglich, die nicht zugleich auch eine Philosophie des Unbewussten ist."

Der Raum der Schwärmer

Der Anspruch auf die durchgehende Regentschaft der Vernunft wird bereits im späten 18. Jahrhundert in der Literatur unterlaufen. Im Roman, der Autobiografie und Briefen um 1800 drängen sich nicht zuletzt die Hypochonder, Schwärmer und Melancholiker in den Vordergrund. Sie ebnen lange vor Freud den Weg für eine intensivierte Aufmerksamkeit zu allen leibseelischen Wechselwirkungen.

Nicht von ungefähr werden noch in der Epoche Freuds Schriftsteller für sich zentrale Vorleistungen für die Psychoanalyse beanspruchen. Der Triester Kaufmann und Literat Italo Svevo treibt diesen Konflikt auf die Spitze, wenn er in Freud nicht mehr sehen will als einen "Schriftsteller mit pedantischem Stil".

Gerald Heidegger, ORF.at

Buchtipps:

  • Henri Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, 1.264 Seiten, Diogenes Verlag. 30,80 Euro.

Ellenberger geht in seiner wissenschaftshistorischen Darstellung vor Freud vor allem auf die Schulen von Nancy und Charcots Salpetriere ein. Der historisch älteste Referenzpunkt für die dynamische Psychiatrie ist bei ihm Mesmers Animalischer Magnetismus.

Mit der Rolle des Mesmerismus im vorrevolutionären Frankreichs beschäftigt sich auch Robert Darntons mittlerweile legendäre sozialhistorische Studie.

  • Robert Darnton, Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich, Hanser Verlag, 24,20 Euro.

Zur Rolle der Psychologie und des Unbewussten in der Epoche Kants erschien bereits in den frühen 80er Jahren die Studie der Brüder Gernot und Hartmut Böhme.

  • Hartmut Böhme, Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, 516 Seiten, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 17,50 Euro.

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