Gefühl und Moral statt Vernunft und Konsum | |
Dostejewski verabschiedete sich von seiner Frau mit der Abwandlung eines Bibelzitats.
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Vor 125 Jahren ist der russische Dichterfürst Fjodor Michailowitsch Dostojewski im Alter von 59 Jahren gestorben. Eine Todesahnung und seine letzten Worte können als Symbol für das literarische Werk und die Wandlungen im Leben des unsteten Schriftstellers verstanden werden, von dem es heißt: "Kein Russland ohne Dostojewski". Beim Möbelrücken übernommen Die Todesursache mutet banal an bei jemandem, dessen Leben so tragisch und schicksalhaft verlief wie das Dostojewskis. In der Nacht auf den 6. Februar erlitt der tief Gläubige einen Blutsturz infolge der Überanstrengung beim Verrücken eines Bücherregals. Im Bewusstsein des Todes Drei Tage später lag er frühmorgens wach an der Seite seiner geliebten Frau, laut der er sich der Tatsache seines nahenden Todes bewusst war. Als auch sie aufgewacht war, wandte sich Dostojewski zu ihr: "Weißt du, Anja, ich schlafe schon drei Stunden nicht und denke fortwährend nach, aber erst jetzt ist mir klar zu Bewusstsein gekommen, dass ich heute sterben werde. Zünde eine Kerze an, Anja, und gib mir das Neue Testament." Bibel aus Straflager-Zeiten Anna Grigorjewna Dostojewskaja brachte ihrem Mann jenes Exemplar, das ihm heilig war wie sonst nichts. Es war das Geschenk der Tochter eines Revolutionärs, übergeben zum Anlass von Dostojewskis Deportation nach Sibirien. In jungen Jahren, nach dem überraschenden Erfolg seines Erstlingswerks "Arme Leute", war Dostojewski in den literarischen Salons St. Petersburgs herumgereicht worden. Die Teilnahme an einem zensurkritischen, literarisch-politischen Kreis wurde dem rasch zu Ruhm Gekommenen zum Verhängnis. Hinwendung zur Religion Dostojewski wurde zum Tode verurteilt. Eine Minute vor der Exekution verlas ein Beamter die Begnadigung und Umwandlung der Strafe in vier Jahre Sibirien und sechs Jahre Militärdienst. Die Bibel war das Einzige, was Dostojewski während seines Aufenthalts im Arbeitslager in Omsk lesen durfte. Er wurde zum tief religiösen Menschen, was sich fortan in seinem literarischen Schaffen niederschlug. Feind der Aufklärung Die Aufklärung westlicher Prägung war Dostojewski seit seiner religiösen Wende ein Dorn im Auge. Er verlieh in psychologischen, spannungsgeladenen Romanen seiner Ablehnung der reinen Vernunft auf Kosten des freien Willens Ausdruck, nachzulesen etwa in "Aus dem Dunkel der Großstadt": "Wollen wir diesem ganzen Handeln aus Vernunft nicht einfach einen Tritt geben, damit alle diese Logarithmen zum Teufel gehen und wir wieder nach unserem dummen Willen leben könnten?" Mitleid statt Sozialkritik Mitgefühl mit den Armen setzte er an die Stelle von Sozialkritik mit ihrer Konsequenz einer Revolution. In diesem Sinn verarbeitete er seine traumatischen Erfahrungen in Sibirien im Roman "Erniedrigte und Beleidigte". Die späte Reue Raskolnikows In "Schuld und Sühne" (das mittlerweile mit "Verbrechen und Strafe" übersetzt wird) schwärmt die Hauptfigur Raskolnikow von der Wissenschaft Newtons, dessen Erkenntnisse mehr wert seien als das Leben zahlreicher Menschen. Raskolnikow bereut erst spät, im Epilog des Romans, sein Verbrechen, den Mord an einer Pfandleiherin, deren Leben er als unwert empfindet. Erst als die Gefühle dank einer Liebe - wie oft bei Dostojewski - den Verstand besiegen, wird sich Raskolnikow seiner Schuld bewusst. Die Grundaussage von Dostojewskis wohl berühmtestem Werk: Mit Vernunft lassen sich selbst Verbrechen wie Mord rechtfertigen, das Gefühl kann viel eher zwischen Gut und Böse unterscheiden. "Gottes Wahrheit entstellt" Religiöse Motive werden besonders bei seinem letzten großen Roman "Die Brüder Karamasow" offensichtlich. Hier arbeitet sich Dostojewski an der für ihn augenscheinlichen Unvereinbarkeit zwischen Vernunft und Glauben ab: "Ist denn nicht bei den Weltlichen (...) das Angesicht Gottes und seiner Wahrheit entstellt worden? Sie haben die Wissenschaft, aber in der Wissenschaft ist nur das, was den Sinnen unterworfen ist. Die geistige Welt hingegen, der höchste Teil des menschlichen Wesens, ist völlig verneint, und er wurde sogar mit einer gewissen Feierlichkeit, ja mit Hass von ihnen abgelehnt." Stichwortgeber für Deutschnationale Dostojewski stand aber auch für strammen russischen Nationalismus, der sich gegen den konsumorientierten, aufgeklärten Westen richtete, etwa im umstrittenen "Tagebuch eines Schriftstellers". Nur für Deutschland findet Dostojewski noch Lob. Auf beide Aspekte in Dostojewskis Werk berufen sich bis heute Deutschnationale. Trotz aller Kritik am Westen bereiste der überzeugte Russe übrigens oftmals Europa, wo er mehrmals sein ganzes Vermögen an den Roulettetischen von Casinos verlor. Erst seine Frau Anna sanierte die Finanzen Dostojewskis. Utopie vom Weltfrieden Schließlich entwickelte Dostojewski, vor allem im "Traum eines lächerlichen Menschen" und bei seinem letzten öffentlichen Auftritt, einer Rede vor dem enthüllten Puschkin-Denkmal in Moskau, die Utopie vom friedlichen Zusammenleben aller Menschen, insbesondere der slawischen Länder und des Westens. "Lass' mich gehen" Dostojewskis Griff nach der Bibel in seinen letzten Stunden schließt jedenfalls den Bogen eines religiösen Lebens, von den Anfängen in Sibirien bis zum Tod. Am Sterbebett ließ er seine Frau das Kapitel 3,14 und 15 des Matthäus-Evangeliums vorlesen, in dem Jesus zu Johannes sagt: "Halte mich nicht zurück." Dostojewski wandelt das Zitat für seine Frau ab: Sie möge ihn gehen lassen, sobald er bereit sei. Diese Worte werden von Anna Dostojewskaja als die letzten ihres Mannes überliefert. Buchhinweis Wolfgang Kasack, Dostojewski. Leben und Werk. Suhrkamp Insel, 169 Seiten, 3,95 Euro. Link:
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